"Dich will ich loben, Hässliches, du hast so was Verlässliches", reimte der Dichter Robert Gernhardt, nachdem er durch Metzingen gegangen war. Die württembergische Kreisstadt ist nichts Besonderes, das Prinzip Metzingen herrscht überall. Überall treffen wir auf jene Form ästhetischer Besinnungslosigkeit, die Gewerbegebiete wuchern lässt, raumgreifend Flächen für den Straßenbau planiert, anspruchslose neben charakterstarke Bauten setzt, erst Historisches liquidiert und dann, in nachholender Sentimentalität, das hingeklotzte Neue auf altertümlich schminkt.
So auch in Dresden. Einerseits lassen sich dort politische Mehrheiten für historisierende Rekonstruktionen des vernichteten baugeschichtlichen Erbes gewinnen, zugleich aber auch für die Zerstörung einer kostbaren Landschaft. Und wir müssen einsehen: Darin steckt gar kein Widerspruch. Das Prinzip Metzingen ist universal und vereinigt mühelos beides: die Errichtung von Barock-Attrappen rund um Dresdens Neumarkt und die Verwüstung der stadtnahen Elbauen durch eine riesige Brücke, deren Wiesen überspannenden V-Trägern die Ästhetik einer Panzersperre eignet. Dass das vierspurig geplante Monstrum nominell als Idyll daherkommt und "Waldschlösschenbrücke" heißt, passt ins Bild.
Beim Bürgerentscheid vom Februar 2005 sprachen sich 68 Prozent der Abstimmenden für den Bau aus. Dieses Votum, wie auch immer man es erklären möchte, zerstört alle Illusionen, die man über die ästhetische Urteilskraft von Bevölkerungsmehrheiten noch hegen könnte. Denn deutlich wird: Kommt es zur Probe aufs Exempel, wie es um den Sinn für Landschaft bestellt ist, dann zeigte sich hier, dass er bei zwei Dritteln der am Votum beteiligten Dresdner so gröblich vernachlässigt ist, dass man auch gleich sagen könnte, sie hätten keinen.
Da man auf den Sinn für Landschaft nicht rechnen kann, wird den Brückenbauern nur mehr damit gedroht, dass das Dresdner Elbtal seinen Welterbe-Status verlieren könnte. Welch schaler Formalismus. Offenbar reicht es nicht, dem Publikum anschaulich zu machen, was hier zerstört wird. Wer einmal durch die Elbwiesen dort spaziert ist, wo nun die Brutalästhetik triumphieren soll, den müsste angesichts der Planungen doch Verständnislosigkeit befallen: Diese stadtnahe Oase, diesen beschaulichen Bogen des Flusses, diese Weite des Raums und die zauberhafte Staffelung aus kulturlandschaftlichem Vorder- und städtischem Hintergrund wollt ihr ruinieren? Die Elbe dort queren, wo sie in Dresden besonders breit strömt, den Blick verriegeln und die Ruhe des Ortes mit Autolärm vertreiben?
Nostalgisch sei, so zu fragen, tönt es zurück. Hysterische Kampagnen, "die sich auf ein meist diffuses Stadt- oder Landschaftsempfinden berufen, das aus der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts stammt", beanstandeten gleich mehrere Kommentatoren. Einer mokierte sich besonders darüber, dass in der Diskussion so oft von der Zerstörung von Blickachsen die Rede sei. Beim Streit um neue Hochhäuser im Sichtfeld des Kölner Doms oder um Windräder nahe der Wartburg sei es dasselbe: Gekämpft werde nie um die Sache selbst, sondern bloß um schöne Aussichten.
Doch diese argumentative Trennung ist unzulässig. Für den Blick, der Landschaft sieht, wo der Raumplaner Platz für Verkehrsachsen wahrnimmt, sind Distanz, Kontemplation, Transzendenz des Alltags konstitutiv. Landschaft ist nichts Objektives, sie ist erst im Spiegel der Seele da. Um Aussichten geht es, weil wir uns Landschaft nicht als minimiertes Detail denken können. Wir verlangen nach einem Totaleindruck. Eine gewisse Großräumigkeit muss daher sein. So ist zwangsläufig der Bezug auf Blickachsen im Spiel.
Auch der Vorwurf der Nostalgie trifft nicht recht. Man braucht kein Früher-war-alles-besser-Gejammer anzustimmen, um gegen die neue Elbbrücke zu sein. Es genügt, einige Ansprüche an Proportion, Maß und die Natur der Baustoffe zu haben, um zu den bisher vorgelegten Plänen zu sagen: Das ist grausig. Und selbst Landschaftsarchitekten auf der Höhe der Modernität werden zu dem gewählten Ort sagen können: Hier bitte nicht.
Der Sinn für Landschaft ist nichts Vorgestriges, sondern selber Kind der Moderne. Dies allein schon deshalb, weil der Naturgenuss die Freiheit des Betrachtenden voraussetzt. Wer in der Natur oder unmittelbar von ihr lebt, als Ausgelieferter oder Abhängiger, kann sich ihr nur praktisch, nicht aber ästhetisch zuwenden. So schwärmt denn auch nicht der an seiner Scholle klebende Bauer, sondern vor allem der moderne Städter für Landschaft. Mit Recht pochte der Philosoph Joachim Ritter darauf, dass es "Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben" kann.
Die Polemik gegen Nostalgiker hingegen glaubt, die Modernität für sich pachten zu können. Sie predigt Innovation, dabei kennen wir den hier zur Debatte stehenden Typus von "Innovation" nur allzu gut. Es ist das Prinzip Metzingen, das die deutsche Kulturlandschaft seit Jahrzehnten in ein Netz aus Asphaltbändern verwandelt, gesäumt von Einkaufszentren und Agrarfabriken. Doch modern sein, heißt nicht, immer wieder die gleichen dummen Bausünden zu begehen.
Joachim Güntner
Joachim Güntner, Publizist und Literaturwissenschaftler, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, bevor er in die freie Publizistik ging. Er war zunächst künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien in Köln und schrieb für die Feuilletons überregionaler Zeitungen, für Zeitschriften und für den Hörfunk. Seit 1997 ist Güntner der für Deutschland zuständige Kulturkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung.